Buchtipp : Kristín Marja BALDURSDÓTTIR, Sterneneis. (Rezension)

Kristín Marja BALDURSDÓTTIR, Sterneneis.

Island/Roman/

 Kristín Marja BALDURSDÓTTIR: Sterneneis.
Kristín Marja BALDURSDÓTTIR: Sterneneis.
(Karlsvagninn., 2009)
237 S., ISBN: 978-3-8105-0266-7
Frankfurt am Main: Krüger, 2011
Bewertung
Bewertung: 4 Sterne

Rezension

Bei der Ich-Erzählerin Gunnur wurde in der Nacht eingebrochen, ihre Sachen durchwühlt und gestohlen. Während sie schlief wurde sie vielleicht auch im Schlaf beobachtet. Daher will sie nicht länger in der Wohnung bleiben, sondern über das Wochenende in ihr Sommerhaus fahren, obwohl Winter ist.
Ihre Innenarchitektin muß dringend verreisen und läßt ihre 14-jährige Tochter Hugrún bei Gunnur zurück. Gunnur nennt sie in Gedanken "das Reh". So ist die etwa 50-jährige Gunnur gezwungen, ihr Wochenende mit einer ihr unbekannten Jugendlichen zu verbringen.
Im Sommerhaus stellt sich heraus, daß der Fernseher nicht mit dem DVD-Player kann, Gunnur aber nur isländisches Fernsehen hat. So ist sie gezwungen, sich näher mit dem Reh zu beschäftigen. Sie spielen Bauernschach und Gunnur erzählt dem Mädchen von ihrer Jugend - was diese durchaus zu interessieren scheint. Mit der Zeit wird auch das Reh etwas offener, und Gunnur erfährt, daß sie sich von ihrer Mutter nicht wirklich wichtig genommen fühlt und unter den wechselnden Männerbeziehungen der Mutter leidet.
Das ist alle sehr einfühlsam und interessant erzählt. Man erfährt viel über die Verhältnisse in Island im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts und über die unterschiedliche Art des Heranswachsens. Kinder scheinen nur eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. In den langen Sommerferien wurden sie einfach zu Bauern aufs Land geschickt, wo sie für Kost und Quartier arbeiten mußten. Sie blieben weitgehend sich selbst überlassen, und es kümmerte sich niemand weiter um die Umstände und Bedingungen, unter denen sie dort lebten. Genau diese Verhältnisse bilden den Hintergrund in dem Krimi von Viktor Arnar Ingólfsson, Späte Sühne .
Aber auch in der Gegenwart gibt es scheints noch immer diese gewisse Vernachlässigung der Kinder. Bedingt vielleicht durch die nicht sehr große Stabilität von Mann-Frau-Beziehungen in der isländischen Gesellschaft. Es gibt viele alleinerziehende Mütter, oft mit Kindern aus verschiedenen Beziehungen. Vielleicht resultiert daraus das ziemlich massive Drogen- und Alkoholproblem der Jugendlichen in Island.
Kristín Marja Baldursdóttir greift hier wieder eines ihrer Zentralthemen auf: die Freiheit der Frauen. Isländische Frauen sollen stark sein, die Kinder alleine aufziehen. Aber die Freiheit, die sich Männer nehmen, wird ihnen nicht zugestanden und eben durch die Kinder eingeschränkt. Sehr deutlich arbeitet sie das in ihren beiden Romanen über die Malerin Karitas, Die Eismalerin und Die Farben der Insel , heraus. Hier arbeitet sie das Thema auf zwei Ebenen heraus: Gunnurs Mutter war Alleinerzieherin und mußte ihre vier Kinder durchbringen, Gunnur selbst kann dieses Wochenende in ihrem Sommerhaus nicht in Freiheit, und das bedeutet wohl: unter dem Vorrang der je eigenen Wünsche und Bedürfnisse, verbringen, sondern muß sich mit einem Kind beschäftigen.
Leider, und völlig unverständlich, hat der Roman kein Ende. Es gibt einen dramatischen Höhepunkt, als Gunnur durch die Schuld des Rehs beinahe ertrinkt. Aber dann, als sie ein Theaterstück mit den verteilten Rollen Zuschauer-Akteur aufführen, endet der Roman mitten in diesem Stück. Zurück bleibt Ratlosigkeit.
Fazit: Die interessante Geschichte, die Spiegelung des Heranswachsens der älteren Frau und des jungen Mädchens, wird nicht geschlossen, sondern bleibt unvollendet. Aus einem nicht nachvollziehbaren Grund stellt der Verlag vor den Roman eine Warnung: Dies ist ein Roman. Darin werden Ausschnitte aus der Erfahrungs- und Reifungsgeschichte von Frauen erzählt. Männer lesen diese Zeilen auf eigene Verantwortung. ?? Bedeutet das, daß Frauen das Ende verstehen und Männer nicht? Oder was sonst?

Das Reh. Körperlich gesund wie die meisten isländischen Kinder. Wir geben so viel auf körperliche Gesundheit, wir Isländer. Nirgends ist die Kindersterblichkeit so niedrig wie hier. Wir betreiben frühkindliche Untersuchungen wie einen Wettkampfsport, spritzen und impfen sie im Akkord, stopfen Futter in sie hinein, damit sie groß und stark werden. Ihre geistige Gesundheit dagegen vernachlässigen wir, soziale Reife ist ja schließlich Nebensache. Wir haben keine Zeit für Gejammer dieser Art, wir Isländer. Die müssen einfach mit ihren Depressionen zurechtkommen, die Würmchen, das sieht man ihnen ja sowieso nicht an. Es gibt nichts anderes zu sehen, als dass sie gesund sind und genug zu essen bekommen. Sie bekommen genug zu essen. Was wollen sie denn noch mehr?

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