Buchtipp : Mechtild BORRMANN, Trümmerkind. (Rezension)

Mechtild BORRMANN, Trümmerkind.

Hamburg/Roman/

 Mechtild BORRMANN: Trümmerkind.
Mechtild BORRMANN: Trümmerkind.
300 Seiten, ISBN: 978-3-426-28137-6
München: Droemer Knaur, 2016
Bewertung
Bewertung: 4 Sterne

Rezension

Dürfen die Verlierer ihr Schicksal beklagen?
Hamburg im Jahrhundertwinter 1946/47. Wie die anderen Bewohner versucht auch die Familie Dietz zu überleben. Der Vater gilt seit 1943 als in Rußland vermisst. Mutter Agnes versucht, die Familie mit Steineklopfen über die Runden zu bringen. Aber schließlich gelingt es ihr, als Änderungsschneiderin Fuß zu fassen und Aufträgfe von Engländerinnen zu bekommen. Sohn Hanno durchstöbert die Ruinen, um noch intakte Tauschware für den Schwarzmarkt zu finden. Unterstützt wird er von seiner siebenjährigen Schwester Wiebke.
Bei einem ihrer Streifzüge durch die Ruinen entdecken sie einen etwa dreijährigen Jungen neben einer Frauenleiche. Er ist gut gekleidet, spricht aber nicht. Sie nehmen ihn mit, die Mutter gibt ihm den Namen Joost und bezeichnet ihn als ihren Sohn. Und so wächst Joost als Mitglied der Familie Dietz auf.
In der Uckermark überlebt die Familie Anquist 1945 den Einmarsch der Russen. Sie verlieren ihr Gut und die Pferdezucht, der Vater wird als Gutsherr und Mitglied der NSDAP verhaftet. Der Sohn ist vermisst. Clara Anquist muß die Familie führen. Sie müssen das Gut verlassen, in dem Flüchtlinge einquartiert werden. Sie finden Unterschlupf in einer kleinen Hütte am See. Und als dem Vater die Flucht aus dem Gefängnis gelingt, beschließen sie, nach Spanien zu gehen, wohin der Vater noch Beziehungen hat. Ihnen schließen sich ein Vater mit seiner erwachsenen Tochter an, die als Flüchtlingen am Gut einquartiert wurden. Nach der Flucht aus der sowjetischen Zone warten sie in Hamburg auf eine Passage nach Spanien.
Im dritten Handlungsstrang sucht Anna Meerbaum nach den Wurzeln ihrer Familie. Doch ihre Mutter Clara, geborene Anquist, weigert sich, über das Gut und die Zeit nach dem Krieg zu sprechen. Sie erwähnt nur eine Reise nach Afrika, wo der Rest der Familie umgekommen sei. Bei einer zufälligen Reise nach Uckermark und zum Gut lernt Anna einen Zeugen aus dieser Zeit kennen. Fotos bringen sie mit Joost Dietz zusammen, der ebenfalls nach seinen Wurzeln sucht - seit er erfahren hat, daß er eigentlich ein Findelkind ist.
Fazit: Mechtild BORRMANN gelingt es, diese verschiedenen Zeitebenen plastisch dazustellen und die drei Handlungsstränge zusammenzuführen. Dennoch bleibt ihre Schilderung der Ereignisse seltsam distanziert und sachlich, wie in einem Bericht. Die Zeit des Nationalsozialismus wird fast völlig ausgeblendet. Natürlich sind die Erlebnisse und die erlittenen Entbehrungen und die Verluste der Verlierer einschneidend und auch schrecklich. Aber die Frage nach dem Anteil der Deutschen an dem Krieg, nach Ihren Gräueltaten, stellt die Autorin nicht. Und ein deutscher Kommunist, der mit den sowjetischen Truppen gekommen ist, stellt abschätzig fest: "Ihr Deutschen habt alle nichts getan." Wie sehr dürfen sie sich dann beklagen?
NB: Die Autorin klärt hier gewissermaßen literarisch eine historische Mordserie in Hamburg im Jänner 1947, die Thema des historischen Krimis Der Trümmermörder von Cay Rademacher ist. In der Realität wurde der Fall allerdings nie geklärt.

Am Wegrand, auf einer Baumwurzel unmittelbar am Wasser, hatte Isabell die Schuhe akkurat zusammengestellt. Braune, knöchelhohe Schnürschuhe. Selbst die Enden der Schnürsenkel hatte sie ordentlich in die Schäfte gesteckt. Dahinter lag die braune Jacke aus gefilzter Wolle, die sie sich für ihren letzten Weg über das Nachthemd gezogen hatte. Auch sie ordentlich gefaltet. Selbst die Knopfleiste hatte Isabell geschlossen. Clara wagte nicht, die Kleidungsstücke anzufassen. Wie eine Botschaft kamen sie ihr vor. So, als habe Isabell ihr mitteilen wollen, dass sie nicht blind und überstürzt ins Wasser gegangen war. Dass sie diesen letzten Schritt sorgfältig geplant hatte.

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