Buchtipp : Jón Kalman STEFÁNSSON, Fische haben keine Beine. (Rezension)

Jón Kalman STEFÁNSSON, Fische haben keine Beine.

Island/Keflavík/Norđfjörđur/Roman/

 Jón Kalman STEFÁNSSON: Fische haben keine Beine.
Jón Kalman STEFÁNSSON: Fische haben keine Beine.
(Fiskarnir hafa enga fætur., 2013)
407 S., ISBN: 978-3-492-05689-2
München: Piper, 2015
Bewertung
Bewertung: 4 Sterne

Rezension

„In Keflavík gibt es drei Himmelsrichtungen: den Wind, das Meer und die Ewigkeit.”
Keflavík, etwa eine Autostunde von Reykjavík entfernt, existiert eigentlich nicht. Bis in die 1980er-Jahre wurde es dominiert von der Basis der US-Streitkräfte und dem Fischfang. Aber die Fischerei fiehl der Fangquote zum Opfer, die Amerikaner zogen ab. Geblieben ist der nahe gelegene Flughafen, aber die Straße führt an Keflavík vorbei.
Hier wachsen Ari und sein Cousin, der namenlose Ich-Erzähler, in den 1980er-Jahren auf, lernen die Beatles, Pink Floyd und die Mädchen kennen. Eines dieser Mädchen ist Sigrún, an das sich Ari nicht herantraut, und von deren Interesse an ihm er erst erfahren wird, als ihr Leben längst zerstört ist. Vielleicht auch, weil er es nicht verstanden hat.
Nach 20 Jahren Ehe und drei Kindern fegt Ari an einem Dienstagmorgen das Geschirr vom Tisch und geht ohne ein Wort. Drei Wochen lang verkriecht er sich in einem einsamen Hotel, dann geht er für ein paar Jahre nach Kopenhagen. Aber mit seiner Frau gibt es keine Gesprächsbasis mehr. Als sein Vater im Sterben liegt, kehrt Ari nach Island zurück. Auch zwischen ihm und seinem Vater gab es nie eine Gesprächsebene. Sie saßen am Morgen gemeinsam beim Frühstück, aber sie konnten nicht miteinader reden.
In Rückblenden wird das Schicksal von Aris Großeltern thematisiert, Oddur und Margrét. Sie leben in dem kleinen Ort am Nor?fjör?ur. Oddur, den das Meer zum Mann gemacht hat, wird Kapitän und Schiffseigner und ist wochenlang nicht zu Hause. Margrét muß mit ihrem pflegebedürftigen Schwiegervater und einer wachsenden Zahl von Kindern alleine fertig werden, wie es damals für isländische Frauen üblich war. Und sie bemerkt, daß in ihrem Leben etwas verloren gegangen ist, daß von ihren Träumen und Sehnsüchten nichts geblieben ist. Aber darüber kann sie mit Oddur nicht sprechen.
Fazit: Jón Kalman STEFÁNSSON, der zu den bedeutendsten Schriftstellern Islands gehört, schreibt in diesem Roman über das Schweigen, die Unmöglichkeit von Menschen, miteinander über die Dinge hinter dem Alltag zu sprechen. So wie Fische keine Beine haben und nicht über das Wasser gehen können, bleiben die Protagonisten hier im entscheidenen Augenblick sprachlos, schweigsam. Bis es zu einer plötzlichen Eruption kommt, und der andere steht hilflos daneben. Stefánsson zeichnet tief berührende und wortgewaltige Szenen. Aber manchmal, so scheint es, lässt er sich von seinen eigenen Worten überwältigen und verliert sich.

...weil das, was das Beste auf der Welt sein sollte, der eigentliche Sinn des Lebens, der Quell von Freude und Unschuld, die Kinder, sich in etwas verwandelt hatte, das einem Aufenthalt in der Hölle gleichkam. So sollte das Leben wahrlich nicht sein: Probleme und ständige Erschöpfung, Schlaflosigkeit, der Mann auf See, der überhaupt nichts verstand, nichts merkte, nichts mitbekam, das Abenteuer war verflogen, verdampft, hatte sich aufgelöst, sie schrie wegen der teuflischen Visionen, die sie hatte, wegen der teuflischen Stimmen, die sie hörte und die ihr einflüsterten, den Kindern etwas anzutun, sie zu schlagen, bis sie endlich Ruhe gaben, sie schrie, weil das Leben aus kaum etwas anderem als Dornen bestand, sie schrie und floh, lief davon, die Treppe hinauf, hinaus auf die Straße, hinein in die Freiheit des Suffs, die Freiheit der Kapitulation. Und sie kehrte nie von dort zurück.

weitere Bücher zu
Island
Keflavík
Norđfjörđur
Roman
Bücher von Jón Kalman STEFÁNSSON

Top