Buchtipp : Dacia MARAINI, Die stumme Herzogin. (Rezension)

Dacia MARAINI, Die stumme Herzogin.

Sizilien/Historischer Roman/

 Dacia MARAINI: Die stumme Herzogin.
Dacia MARAINI: Die stumme Herzogin.
(La lunga vita di Marianna Ucrìa., 1990)
342 S, ISBN: 3-492-03932-4
München: Serie Piper, 1997
Bewertung
Bewertung: 4 Sterne

Rezension

Eintauchen in eine unbekannte Welt.
Es ist eine doppelt unbekannte Welt, in die uns die italienische Autorin Dacia Maraini führt: zum einen das Sizilien des 18. Jahrhunderts, vorwiegend aus der herrschaftlichen Perspektive der Herzogin; zum anderen das Innenleben und Erleben eines Menschen, der taubstumm ist.
Marianna glaubt zu wissen, daß sie nicht taubstumm geboren wurde, denn sie erinnert sich an die Stimme des Vaters. Doch der Vater konnte sie nicht schützen, hat nur versucht, sie wieder zum Sprechen zu bringen. Wahrscheinliche Ursache war eine Vergewaltigung in der Kindheit.
Da ihre Chancen am Heiratsmarkt gering sind, wird sie mit dem Onkel verheiratet - der Herr Onkel und Gatte, wie er in Folge genannt wird. Dieser ist ein kalter, liebesunfähiger, unsicherer Mensch, der sich vor allem seinen Studien der Heraldik widmet.
"Dieses Zimmer scheint ihr etwas sagen zu wollen, von dem sie nie etwas hat wissen wollen: Es spricht ihr von der Armut eines einsamen Mannes, der in die Unkenntnis seiner selbst seinen ganzen erschrockenen Stolz gelegt hat. Eben in diesem Augenblick, in dem sie die Kraft gefunden hat, sich zu verweigern, empfindet sie eine erschöpfte Zärtlichkeit für ihn und das Leben dieses barschen und durch Schüchternheit verrohten alten Mannes."
Mariannas Rolle ist eindeutig: eine Gebärmaschine, wie die Frauen diser Epoche es allgemein waren. Der Herr Onkel nimmt sie mit Gewalt, er kennt keine andere Annäherung, und sie gebiert im fünf Kinder, darunter zwei Söhne. Damit erfüllt sie ihre Aufgabe und erreicht die ihr zustehende Position.
Um sich mit der Umwelt verständigen zu können, durfte sie Lesen und Schreiben lernen, auch in der oberen Kreisen für eine Frau nicht üblich. Und so kann sie i9hre Zeit in der Bibliothek lesend verbringen, eine Besonderheit, die ihr nachgesehen wird. Ihre Taubheit hat andere Sinne in ihr geschärft. So kann sie die Gedanken mancher Menschen lesen.
Mit dem Tod des Herrn Onkel und Gatten - er war rund dreißig Jahre älter - gelingt es Marianna zunehmend, sich von ihrer Rolle und den Konventionen zu lösen: als Mutter, Frau, Herzogin. Sie sieht das Elend der Pächter auf ihren Gütern - aber ihr Versuch, es mit Almosen zu lindern, geht ins Leere. Aber schließlich gelingt es ihr, eine neue Position im Leben zu finden und sich eine Art Freiheit zu erkämpfen.
Fazit: Es ist nicht ganz leicht, diesen historischen Roman von Dacia Maraini zu verstehen. Zu unverständlich und fremd ist die Welt, die sie schildert. Aber gleichzeitig folgt man begierig ihren Schilderungen, begleitet Marianna mit wachsendem Interesse auf ihrem Lebensweg. Es ist ein Blick durch einen Türspalt - wie historisch die Szenen dahinter allerdings sind, lässt sich von hier nicht beurteilen. Aber es ist doch auch ein Sittenbild Siziliens, das den Zerfall der Herrschenden und den Verfall der Insel besser verstehen lässt.

Hier in diesem vor der Morgenkälte geschützten Winkel möchte Marianna die Hand nach dem Knie des Herrn Onkels und Gatten ausstrecken, aber dies scheint ihr eine Geste der Zärtlichkeit zu sein, die nicht in ihre Ehe paßt, etwas Unerhörtes und nie Gesehenes. Sie spürt den versteinerten Körper des Mannes neben sich, durch den Gedankenfetzen ziehen, die wie kleine Windstöße aus seinem weißgewordenen, aber jeder Weisheit baren Kopf ausschlüpfen.

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