Buchtipp : Delia OWENS, Der Gesang der Flusskrebse. (Rezension)

Delia OWENS, Der Gesang der Flusskrebse.

USA/North Carolina/Provinz/Soziale Aussenseiter/Roman/

 Delia OWENS: Der Gesang der Flusskrebse.
Delia OWENS: Der Gesang der Flusskrebse.   Neu 
(Where the crawdads sing., 2018)
459 Seiten, ISBN: 978-3-446-26419-9
München: Hanserblau, 2019
Bewertung
Bewertung: 5 Sterne

Rezension

Wenn nur noch die Möven bleiben.
Die sechsjährige Kya sieht ihre Mutter, wie sie mit ihrem blauen Koffer in der Hand und ihren Krokoschuhen den Weg hinuntergeht. Sie dreht sich nicht um, winkt Kya nicht - und wird niemals wiederkommen. Und bald verschwinden auch ihre älteren Geschwister, an die sie bald keine Erinnerung mehr haben wird, und zuletzt ihr Bruder Jodie, der ihr am nächsten war und sich um sie gekümmert hatte.
Sie wusste, dass Pa der Grund war, warum alle weggingen. Was sie nicht verstand, war, warum keiner sie mitnahm.
Ihr Vater ist ein Schläger und Trinker. Er kam ursprünglich aus einer wohlhabenden Familie, die jedoch in der Weltwirtchaftskrise alles verlor. Mit dem Status der Armut kam er nie zurecht, und in den Schützengräben im Zweiten Weltkrieg zerbrach er. Die Veteranenrente nach einer Verletzung sicherte sein Überleben.
Obwohl sie nun alleine sind, kümmert ihr Vater sich nicht weiter um sie, bleibt tagelang fort. Sie muß den Haushalt führen, und gelegentlich gibt er ihr Geld zu Einkaufen. Nun einmal, ein paar Jahre später, werden sie zu einer Familie, gibt es eine Vater-Tochter-Beziehung. Aber sie hält nicht, und irgendwann wird er auch verschwinden.
Im Marschland von North Carolina, von den Städtern gemieden, wächst Kya heran und muß alleine mit allem zurechtkommen. Nur einen Tag geht sie in die Schule, denn versteckt sie sich, wenn sie gesucht wird. Aber das Interesse der Behörden in den 1950er-Jahren ist enden wollend.
In einem langen Prozess freundet sie sich mit Tate, dem Sohn eines Bootsbauers, an. Und es sieht so aus, als hätte sie eine Lebensbeziehung gefunden. Doch als Tate auf das College geht und eine wissenschaftliche Laufbahn als Meeresbiologe anstrebt, wagt er es nicht, Kya seiner Welt zu präsentieren. Und wieder wird sie verlassen und lernt, nur sich selbst zu trauen. Als Tate begreift, daß er ohne sie nicht leben kann, scheint es zu spät, um sie wieder zu gewinnen.
Als sie ablegte, wusste sie, dass niemand diese Sandbank je wieder betreten würde. Die Elemente hatten ein kurzes und veränderliches Lächeln aus Sand geformt, genau im richtigen Winkel. Die nächste Flut, die nächste Strömung würde eine andere Sandbank gestalten und noch eine andere, aber nie wieder diese hier. Die sie aufgefangen hatte. Die sie das eine oder andere gelehrt hatte.
In den 1960er-Jahren verliebt sich Kya in den attraktive Chase, der sie für sich gewinnt. Allerdings wagt er nicht, sich mit ihr öffentlich zu zeigen, bekennt sich nicht zu ihr. Er verspricht ihr die Ehe - und heiratet eine andere. Aber er kann nicht von ihr lassen, versucht, sie zu vergewaltigen. Sie kann sie befreien und droht ihm Rache. Und im Oktober 1969 wird die Leiche von Chase im Sumpf gefunden. Wahrscheinlich ermordet - und die Stadtbewohner sprechen Kya schuldig. Aber hat sie ihn tatsächlich getötet?
Fazit: Eine dunkle Bedrohung schwebt über dem Roman von Delia OWENS. Immer fragt man sich, wie die Geschichte wohl enden wird. Und im wenig toleranten kleinstädtischen Milleu der 60er-Jahre, wo Menschen schnell zu sozialen Aussenseitern werden, kann man nicht viel Positives für das Marschmädchen erwarten.
Natürlich ist es nicht ganz realistisch, daß ein sechs-, zehn- oder auch fünfzehnjähriges Mädchen allein überleben und sich alles selbst beibringen kann. Abert es ist faszinierend, ihr Heranwachsen zu verfolgen. Und betroffen spürt man ihre Sehnsucht nach anderen Menschen, ihre unvorstellbare Einsamkeit, wenn nur noch die Möven bleiben.

Am nächsten Tag wartete sie erneut. Am Vormittag wurde die Luft mit jeder Stunde wärmer, am Nachmittag sengend heiß und flirrte auch noch nach Sonnenuntergang. Später warf der Mond Hoffnung übers Wasser, aber auch die erstarb. Ein weiterer Sonnenaufgang, ein weiterer glühend heißer Tag. Erneuter Sonnenuntergang. Alle Hoffnung auf null. Ihre Augen bewegten sich teilnahmslos, und obwohl sie noch immer auf Tates Boot horchte, war sie nicht mehr angespannt.
(...)
Sie wartete noch eine Stunde auf Tate, dann kehrte sie endlich zur Hütte zurück.

Am nächsten Morgen ging sie wieder zur Lagune, obwohl sie die letzten Reste grausamer Hoffnung innerlich verfluchte. Sie saß am Wasser und horchte auf das Geräusch eines Bootes, das durch den Kanal oder über ferne Mündungsarme tuckerte.

Gegen Mittag stand sie auf und schrie: »TATE, TATE, NEIN, NEIN.« Dann fiel sie auf die Knie, das Gesicht in den Schlamm gedrückt. Sie spürte den starken Sog des Verlustes. Eine Gezeitenströmung, die Kya nur allzu gut kannte.

weitere Bücher zu
USA
North Carolina
Provinz
Soziale Aussenseiter
Roman
Bücher von Delia OWENS

Top