
774 Seiten, ISBN: 978-3-8052-5069-6
Reinbeck: Wunderlich, 2014
Bewertung
Rezension
Die letzte Fahrt des Simplon Orient Express von Paris nach Istanbul.
Mai 1940. Deutsche Panzer rollen auf Paris zu, und es ist nur noch eine Frage von Tagen, bis sie die französische Hauptstadt einnehmen werden. Die meisten der Passagiere müssen die Stadt dringend hinter sich lassen.
Da ist Carol, der Exkönig von Carpathien, der seinen Thron wiedergewinnen will - mit deutscher oder sowjetischer Hilfe. Seine Geliebte Eva Heilmann, Jüdin, hat er zurückgelassen. Sie muß den Zug unbedingt erreichen.
Im selben Luxusschlafwagen residiert auch die Familie Romanow, Verwandte des Zaren, die vor den Sowjets geflüchtet sind. Großfürst Constantin Alexandrowitsch möchte ein Bündnis mit König Carol eingehen. Er wird Carol bei der Wiedergewinnung seines Thrones unterstützen und damit wieder einer Herrscherposition einnehmen.
Ebenfalls ein Abteil in diesem Schlafwagen bewohnt die amerikanische Stummfilmdiva Betty Marshall, deren Zeit abgelaufen ist und die ein Auge auf Carol geworfen hat.
Und da gibt es noch Basil Algernon Fitz-Edwards, ein geheimnisvoller Brite.
Im hinteren Schlafwagen:
Ingolf Helmbrecht alias Ludvig Mueller, Agent der Abteilung Ausland/Abwehr von Admiral Canaris, hilft ihr, an Bord zu kommen. Helmbrecht soll, gemeinsam mit dem Sondergesandten des Heiligen Stuhls, Pedro de la Rosa, versuchen, den Krieg noch zu verhindern.
Paul Richards, Ölmillionär aus Longview, Texas, hat seiner Frau Vera diese Reise zur Hochzeit geschenkt und eigentlich keine weiteren Ambitionen.
Boris Petrowitsch Kadynow, Offizier des sowjetischen Geheimdienstes NKWD, soll den Romanows die Diamanten aus dem Zarenschatz, die sie mitgenommen haben, abjagen.
Der letzte Wagen des Zuges, der wagon de l'Armistice
, ist jener Wagen, in dem die Deutschen nach ihrer Niederlage im Ersten Weltkrieg die Kapitulationsurkunde unterzeichnen mußten - und den Hitler unbedingt wieder haben will, um diesmal die Franzosen zu demütigen. Lieutenant-colonel Claude Lourdon, Offizier im Deuxìeme Bureau des französischen Geheimdienstes, und seine drei Mitarbeiter wollen ihn nach Istanbul bringen.
Es ist klar, daß bei dieser Mischung der Passagiere diese letze Fahrt des Orient Express keine gemütliche sein wird. Und die Länder, durch die er fährt, sind auch nicht ruhig und sicher. Eine turbulente Reise mit etlichen unerwarteten Wendungen. Aber trotz allem wird der Zug fahrplanmäßig in Istanbul ankommen - mit etwa einem halben Tag Verspätung.
Fazit: Benjamin MONFERAT (Künstlername des deutschen Historikers und Autors Stephan Manfred Rother) vermischt geschickt und spannend historische Realitäten mit schriftstellerischer Fiktion. Er erzählt eine Geschichte:
Das Wort «Geschichte» besitzt in der deutschen Sprache mehrere Bedeutungen, bezeichnet die historische Überlieferung und ihre wissenschaftliche Erforschung ebenso wie die rein fiktive Handlung eines Romans. Zwischen diesen einzelnen Bedeutungen aber gibt es Übergänge und Überschneidungen: das weite Feld der Sagen und Legenden und dessen, was als «historischer Roman» zu bezeichnen wir uns angewöhnt haben.
Ein durchaus anspruchsvolles Ergebnis, wobei natürlich gelegentliche Banalitäten in Kauf genommen werden müssen. Jedenfalls ein umfangreiches Lese-Erlebnis!
Alexej sah starr gegen die Wand, auf die hellen Einlegearbeiten im dunklen Holz, die in jedem der Abteile minimal variierten, jede von ihnen ein Kunstwerk für sich. Verziert und gekünstelt. Der letzte Überrest der in Todeskrämpfen zuckenden Alten Welt. Der Orient Express war in Bewegung, versuchte der Vernichtung zu entkommen, die über Europa hereinbrach. Doch das würde ihm nicht gelingen. Zu sehr war er Teil der in Stücke brechenden Vorkriegswelt, und alles an ihm war falsch. An diesem Leben, wie Alexej Constantinowitsch es seit seiner Geburt gekannt hatte.