Buchtipp : Melitta BREZNIK, Nordlicht. (Rezension)

Melitta BREZNIK, Nordlicht.

Norwegen/Lofoten/Deutschenkinder/Roman/

 Melitta BREZNIK: Nordlicht.
Melitta BREZNIK: Nordlicht.
251 S., ISBN: 978-3-630-87287-2
München: Luchterhand, 2009
Bewertung
Bewertung: 5 Sterne

Rezension

Norwegen in dunkler Zeit.
Die Ärztin Anna bemerkt, wie sie sich langsam verliert. Ihr Arbeit an der Psychiatrischen Klinik in Zürich beginnt sie zu überfordern. Die Ehe mit dem älteren Mann hat sich verlaufen. Manchmal hat Anna Wahnvorstellungen und befürchtet, eine psychische Störung zu haben.
Anna beschließt, eine Auszeit zu nehmen. Sie trennt sich von ihrem Mann, kündigt an der Klinik und fährt nach Norwegen. In einer einsamen Ferienhütte auf den Lofoten will sie die dunkle Jahreszeit verbringen und auf das Nordlicht warten.
Im Gepäck hat sie die Tagebücher ihre Vaters aus der Zeit seiner Stationierung in Norwegen während des Zweiten Weltkriegs. Er war auf den Lofoten, und anhand seiner Landschaftsskizzen will sie versuchen, die Orte, an denen er war, wiederzufinden. Damit hofft sie, dem verschlossenen Vater, der nie über die Kriegzeit gesprochen hat und ihr immer fern geblieben ist, näher zu kommen.
Auf einem entlegenen Hof trifft sie auf Giske, und die beiden Frauen freunden sich an. Anna sieht das Nordlicht, und mit dem Wiedererscheinen der Sonne hat sie auch ihre schwere Depression überwunden und kann ins Leben zurückkehren. Sie zieht zu Giske auf den Hof und erfährt über deren Schicksal.
Giske ist ein "Deutschenkind", ihr unbekannter Vater war ein deutscher Soldat. Nach dem Abzug der deutschen Truppen werden die Frauen, die sich mit den Deutschen eingelassen haben, zu Huren gestempelt und mit ihren Kindern zu Sündenböcken. Die Kinder werden den Frauen weggenommen und zu Pflegefamilien oder in Heime gesteckt uns ausgegrenzt. Es gab Pläne, die Frauen psychiatrisch zu untersuchen und in Anstalten zu stecken.
Das ist wohl das dunkelste Kapitel der norwegischen Geschichte. Denn der Mythos, während der Besatzungszeit ein Volk der Widerständler gewesen zu sein (ähnlich wie sich die Österreicher gerne sehen), lässt sich nicht durchhalten. Zu viele haben mit den Deutschen kollaboriert, und um dieses Kapitel verdrängen zu können, braucht man Sündenböcke - eben jene Frauen, die sich mit den Deutschen eingelassen und von ihnen ein Kind haben.
Auch Giske wurde ihrer Mutter weggenommen und war zunächst in einer Pflegefamilie. Sie hat Eßstörungen und wird deshalb vom Pflegevater, einem Pastor, regelmäßig geschlagen - nackt. Sie kann vor der Familie fliehen, kommt in ein Heim, wo sie aufgrund ihrer Abstammung diskriminiert wird, und schleißlich in eine psychiatrische Klinik, wo sie brutal zwangsernährt wird.
Es ist eigentlich ein Wunder, daß Giske den Weg in ein normales Leben schafft. Sie erforscht ihre Vergangenheit, findet ihre Mutter und heiratet. Nun lebt sie auf dem Hof der Mutter, die mittlerweile verstorben ist. Anna findet bei Giske die Ruhe und Lebenskraft, mit der sie ihre eigenen Probleme überwinden wird.
Fazit: Der österreichischen Autorin Melitta Breznik, die selbst Ärztin ist, ist hier ein beeindruckendes Bild Norwegens und seiner dunkelsten Zeit gelungen. Aus mehreren Erzählperspektiven und auf verschiedenen Zeitebenen verknüpft sie den Lebenslauf zweier Frauen, die fast Mutter und Tochter sein könnten und die es schaffen, Schicksalsschläge und Lebensumstände zu überwinden und den Neuanfang zu wagen. Und die Autorin scheut sich nicht, den Finger in die Wunde Norwegens aus der Besatzungszeit zu legen - eine Zeit, die immer wieder auftaucht und bis heute nicht verarbeitet erscheint. Ein bestechend überzeugender Roman.

Plötzlich begann der überstürzte Aufbruch der Truppen. Mein Vater wurde bereits im September 44 abgezogen. Dann kurz vor Kriegsende spürte Mutter die ersten offenen Anfeindungen. Damals war sie hoch- schwanger. Mutters Bruder hatte nie erfahren, dass im April 1945 seine Nichte zur Welt gekommen ist, die keiner haben wollte außer ihrer Mutter. Mein Vater hat wahrscheinlich nie erfahren, dass es mich gibt. Auf Anraten des Pfarrers wurde ins Geburtenregister - Vater unbekannt - eingetragen. Es gab niemanden, der sich auf meine Geburt freuen konnte, auch meine Groß- eltern nicht. Sie waren mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Niemand wollte mich hier im Haus haben. Jetzt bin ich die Einzige in der Familie, die noch lebt.

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