Buchtipp : Kristín Marja BALDURSDÓTTIR, Kühl graut der Morgen. (Rezension)

Kristín Marja BALDURSDÓTTIR, Kühl graut der Morgen.

Island/Roman/

 Kristín Marja BALDURSDÓTTIR: Kühl graut der Morgen.
Kristín Marja BALDURSDÓTTIR: Kühl graut der Morgen.
(Kular af degi., 1999)
175 S, ISBN: 978-3-596-19280-9
Frankfurt: Fischer TB-Verlag, 2011
Bewertung
Bewertung: 4 Sterne

Rezension

Die Lehrerin Thórsteina Thórsdóttir, mittleren Alters, attraktiv, geschieden, wohlhabend, hat eine Unterrrichtsmethodik gefunden, um sich bei ihren Schülerinnen und Schülern durchzusetzen: niemals lächeln, Strenge, schlagfertige und scharfe Zunge. Die Frechen und Wortführer in ihren Klassen macht sie geschickt mundtot. Aber sie stellt ihnen auch herausfordernde Aufgaben, oft weit vom Stoff entfernt, und ist daher trotz ihrer Strenge nicht unbeliebt.
Als ein junger Mathematiklehrer aushilfsweise an ihre Schule versetzt wird, will sie ihm entsprechende Ratschläge mitgeben. Er aber hat eine andere Vorstellung vom Unterrichten, die auf Verständnis und Anteilnahme beruht. Damit kann er sich allerdings nicht durchsetzen, und bald wird er von den Schülerinnen einer Klasse gemobbt.
Personal und Geschichte erinnern zunächst an den Roman Der Zeitdieb von Steinunn Sigurdardóttir - auch hier gibt es eine selbstbewußte, unabhängige, etwas ältere Frau, entsteht eine Affäre zwischen ihr und dem jüngeren Lehrer. Und es ist auch eine Geschichte von Einsamkeit, die Frauen erleiden, wenn sie selbstbewußt und unabhängig in einer Welt sein wollen, in der die Männer die Regeln machen und die Frauen nett und adrett sein müssen. "Für einen Augenblick fand ich das Mädchen wieder, das es mit den Küstenschwalben aufgenommen hatte."
Aber das ist nur der vordergründige Teil. Dahinter geht es der Autorin um den Zerfall der isländischen Gesellschaft, um die Drogensucht der Jugendlichen, um die sich scheinbar keiner mehr kümmert. Es geht um Abgängige, die niemand zu vermissen scheint, um jugendliche Gewalt, die man nicht wahrhaben will. Denn mit den Problemen des Junglehrers konfrontiert, weigern sich Thórsteinas Kolleginnen, diese ernst zu nehmen. Sie schauen einfach weg, negieren sie stellvertretend für die Eltern und auch die Gesellschaft.
"Er sagt, dass manche Schüler halbe und ganze Tage vollgedröhnt sind und dass sie sich scharenweise in allen möglichen Ecken paaren... Die Reaktionen waren wie gewöhnlich eindeutig."
Selbst als die Situation eskaliert, wollen sie sich nicht damit auseinandersetzen, um nur selbst unbeschadet davon- und durchzukommen. Nur Thórnsteina will die Sache nicht auf sich beruhen lassen, will die Regeln durchsetzen. Und da niemand bereit ist, sich zu engagieren oder einzugreifen, handelt sie in einer Art Selbstjustiz.
Fazit: Der leichtfüßig daherkommende Roman hält der isländischen Gesellschaft den Spiegel vor. Und was sich dort zeigt, hat wenig mit dem allgemein vermittelten Bild zu tun. Die Isländer sind nicht anders als der Rest Europas, sie wären es nur gerne.

Gesellschaft ist eine Gruppe Menschen, die in geordneten gesellschaftlichen Strukturen leben. ...
Geordnete Strukturen in Island? Das ist ja ganz was Neues. Wissen die nicht, dass Schlendrian in Island eine Tugend ist? Wissen sie nicht, dass hier anerkannte Disziplinlosigkeit herrscht? Wissen sie nicht, dass wir unsere Gesellschaft spannend haben wollen, wir Isländer, dass wir gestresst und abgehetzt sind, dass wir einander in Bezug auf die teuersten Autos und die tollsten Reisen übertrumpfen und uns gegenseitig auf die Füße treten müssen, weil wir alle weltberühmt werden wollen? Wir sind immer noch auf der Jäger- und Sammler-Stufe, drängeln uns in Ellenbogenmanier zu Ruhm und Ansehen, und organisierte Nationen werden zu unseren Füßen kriechen!
Die Gesellschaft hat einen Tumor.

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